Soziale und politische Bedingungen der
Reproduktion
In den 90er Jahren wurde von Schwarzen US-amerikanischen Frauen, die sich als Kollektiv “SisterSong” zusammenschlossen, das Konzept der Reproduktiven Gerechtigkeit entwickelt, welches scheinbar unzusammenhängende gesellschaftliche Strukturen und Politiken sichtbar macht, verknüpft und problematisiert. Darunter fallen die gesellschaftlichen Bedingungen von vermeintlich individuellen Reproduktionsentscheidungen sowie die sozialen, gesundheitlichen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen, unter denen Kinder großgezogen werden. Zudem wird betrachtet, welche Schwangerschaften durch körperpolitische Maßnahmen gefördert und verhindert werden.
Das Konzept kritisiert, dass sich der feministische (weiße) Mainstream beim Thema Reproduktion auf formale Rechtsfragen der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zur Gewährleistung körperlicher Selbstbestimmung konzentriert. Hierdurch werden vorrangig die Lebensumstände weißer cis-Frauen betrachtet. Vernachlässigt werden andere Fragen der reproduktiven Gerechtigkeit, wie beispielsweise das Recht auf Familiengründung, welches meist be_hinderten Menschen, LGBTIQ-Personen, migrantisierten Menschen oder von Armut betroffenen Menschen abgesprochen wird. Durch diese thematische Fokussierung werden die Kämpfe von marginalisierten Menschen unsichtbar gemacht und bestehende Unterdrückungsmechanismen reproduziert.
Der Diskurs um das Kinderkriegen und Schwangerschaftsabbrüche beschränkt sich in weißen feministischen Räumen durch den Fokus auf Selbstbestimmung meist auf individuelle Freiheiten. Ignoriert wird dabei häufig der soziale Kontext, in dem die individuelle Entscheidung für oder gegen ein Kind bzw. eine Schwangerschaft getroffen wird. So individuell und privat diese Entscheidung erscheinen mag – sie ist es nicht. Sie wird unter ungleichen sozialen Bedingungen getroffen, die in unterschiedlichen Zugängen zu reproduktiver Gesundheitsversorgung und unterschiedlichen sozioökonomischen Ressourcen bestehen. Diese ungleichen Möglichkeiten werden entlang rassistischer, ableistischer und queerfeindlicher Herrschaftsverhältnissen strukturiert. Menschen, die von diesen Diskriminierungen betroffen sind, sind daher in ihrer reproduktiven Entscheidungsfindung erheblich eingeschränkt. Reproduktive Gerechtigkeit umfasst somit beides: Das Recht, keine Kinder bekommen zu müssen sowie das Recht, unter entsprechenden Bedingungen Kinder bekommen zu können.
Reproduktionsmöglichkeiten werden neben diesen strukturellen Faktoren durch körperpolitische Maßnahmen reguliert. Sie beeinflussen, wer darin gefördert oder gehindert wird, Kinder zu bekommen sowie welche Kinder als (un)erwünscht gelten. Einerseits gehören dazu pronatalistische, also geburtenfördernde Politiken, wie die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und sozialpolitische Anreize (z.B. Kindergeld), die sich vorwiegend an bestimmte weiße cis-Frauen richten. Andererseits betrifft dies antinatalistische Politiken, also Politiken, die Geburten einschränken, wie die Förderung von selektiven Reproduktionspraktiken und -technologien, Zwangsabtreibungen und -sterilisationen. Selektive pronatalistische und antinatalistische Instrumente der Bevölkerungskontrolle richten sich an unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und sind historisch spezifisch. Sie wurden historisch beispielsweise vom Bedarf an einer kolonialen Arbeiter*innenschaft beeinflusst oder dienen der Sicherung eines weißen Bevölkerungskörpers im Kontext von globaler Migration.
Reproduktive Unterdrückung ist das Ergebnis der Überschneidung mehrerer Diskriminierungsformen. Der Kampf um Reproduktive Gerechtigkeit steht daher in engem Zusammenhang mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte. Reproduktive Gerechtigkeit ist erst erreicht, wenn alle Menschen die sozialen, ökonomischen und politischen Möglichkeiten haben, freie Entscheidungen über ihren Körper, ihre Sexualität und ihre Reproduktion zu treffen. Die Vertreter*innen der Bewegung schaffen daher eigene Utopien und fordern ein gutes Leben für alle.
Damit das möglich wird, muss sich einiges ändern: Zum Beispiel muss das unsensible und privatisierte Gesundheitssystem transformiert werden. Es muss ein bedingungsloses Recht auf soziale Leistungen geben – angefangen bei der Kinderbetreuung. Der Zugang zu einer kostenlosen, diskriminierungsfreien Bildung muss von der Politik gewährleistet werden. Bei der Stadtplanung müssen ganz besonders die Bedürfnisse von Menschen mitgedacht werden, die mit Be_hinderungen leben. Es muss ein Ende von rassistischen, ableistischen und queerfeindlichen Instrumenten der Bevölkerungskontrolle geben. Durch die Verbindung dieser unterschiedlichen Kämpfe werden die Grundzüge des rassistischen und kapitalistischen Gesellschaftssystems infrage gestellt.
Literatur:
kitchen politics (2021): Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit, Band 4, Kitchen Politics: Queerfeministische Interventionen. Münster: edition assamblage.
Ross, Loretta J./Solinger, Rickie (2017): Reproductive Justice. An Introduction. University of California Press Oakland, California.
https://repro-gerechtigkeit.de